Bekannt sind Retrospektiven vor allem aus dem agilen Umfeld, denn im SCRUM Prozess stellen sie nach jedem Sprint ein festes Event dar. Retrospektiven sind Treffen im Team, bei denen es darum geht, aus der Vergangenheit zu lernen, indem man gemeinsam zurückschaut was gut und was schlecht gelaufen ist und warum. Im klassischen Vorgehen gibt es 5 Phasen, die durchlaufen werden:
- Begrüßung und Zieldefinition: Gestartet wird mit einem Willkommen und Klärung dessen, was am Ende der Retro erreicht sein soll.
- Daten sammeln: Es wird geschaut, was gut und was schlecht lief und die verschiedenen, zu bearbeitenden Themen werden priorisiert.
- Einsichten gewinnen: Gemeinsam analysieren die Teammitglieder, warum diese Dinge gut oder schlecht liefen – man versucht also die Ursachen herauszufinden.
- Maßnahmen definieren: Nun werden konkrete Verhaltensänderungen festgelegt, die das Team im nächsten Sprint umsetzen möchte.
- Abschluss: In einem Fazit wird geschaut, ob die zu Beginn angestrebten Ziele erreicht wurden, man sammelt Verbesserungsvorschläge für zukünftige Retros und verlässt das Event mit dem Abholen eines Stimmungsbildes.
So viel zur Theorie. Gerade wenn man in kurzen Sprints arbeitet wird dieses Vorgehen vielen Teams oft zu lästig, der eigentliche Mehrwert fällt hinten rüber, weil man sich nicht mehr wirklich die Zeit nimmt sich und die Zusammenarbeit zu hinterfragen. Dieses Event soll aber ja der Anlass sein, Dinge, die im stressigen Alltag auch mal untergehen, endlich anzusprechen – vor allem auch auf der persönlichen und nicht auf der inhaltlichen Ebene. Wenn man für diese Rückschau (regelmäßig) feste und im besten Fall objektiv moderierte Slots einplant, gibt man dem Team eine sichere Umgebung, in der man bewusst Zeit und Raum für offenes und konstruktives Feedback hat. Die Regelmäßigkeit solch eines Workshops, sollte auf der einen Seite individuell betrachtet, aber dennoch immer wieder eingeplant werden, da es sonst in Vergessenheit gerät.
Doch warum eigentlich nur eine Retrospektive durchführen, wenn man nach agilen Strukturen arbeitet? Eine strukturierte Rückschau in regelmäßigen Abständen, in der sich die Kollegen selbst und ihre bisherige Zusammenarbeit hinterfragen, kann jedem Team helfen und es auf eine neue Ebene führen. Die Herausforderung liegt allerdings darin, es nicht zu einem aufgezwungenen Pflichttermin werden zu lassen. Die Kunst ist, immer wieder neue und auch spaßige, interaktive Methoden einzubinden, die für Abwechslung sorgen. Ich persönlich bin großer Fan davon, Legosteine einzubauen – im wahrsten Sinne des Wortes. Das Bauen eines Ereignisses oder Zustandes, eines Gefühls oder anderen ähnlich abstrakten Dingen, deckt oft, wie unterschiedlich die bestehenden Erwartungen oder Empfindungen im Team sind auf. Die Retrospektive hilft, eingefahrene Muster und Vorgehensweisen zu überdenken und bietet die Gelegenheit, sich gegenseitig zu sagen, warum die Kollegen wertvoll fürs Team sind. Denn auch ein schon gut funktionierendes Team steckt in Mustern und kann sich noch weiterentwickeln, wenn es sich gemeinsam reflektieren.
Weinende Teammitglieder in der Retro
An dieser Stelle möchte ich ein Best Practice Part einem Team widmen, welches wir Anfang diesen Jahres für einen Tagesworkshop begleiten durften. Ein Team, welches zum Zeitpunkt des Workshops seit einem Jahr in dieser Konstellation zusammenarbeitete. Manche kannten sich schon aus früheren Jobs, andere waren erst wenige Monate in der Firma. Anwesend waren, neben der weiblichen Führungskraft, acht Männer, die stets offen und gut gelaunt miteinander umgingen und tolle Ergebnisse ablieferten – allesamt eher sachlich agierende, rationale IT-Experten.
Zum Warm-Up des Tages konnten wir das Team mit Legosteinen aus der Reserve locken. Zu Beginn noch eher skeptisch, entdeckten die Teilnehmer doch zunehmend ihren Spieltrieb und eine überaus spannende Diskussion über Teamevents des letzten Jahres entstand. Über den Tag verteilt folgten Methoden, mit deren Hilfe wir gemeinsam auf Hindernisse und Erfolge im Team blickten und identifizierten, welche Herausforderungen das Team zu bewältigen hat. Neben dem Erarbeiten konkreter Maßnahmen zu vorher priorisierten Herausforderungen mittels eines World Cafés, war das Highlight des Tages die Feedbackdusche. Der Reihe nach durfte jedes Teammitglied von seinen Teammitgliedern hören, warum es besonders wertvoll fürs Team ist und was die Kollegen sich noch von ihm wünschen, die Führungskraft eingeschlossen. Gerade dies stellt manche Teams vor eine besondere Herausforderung, aber nicht in diesem Fall. Nach vielen hundert Teams, die ich schon begleiten durfte, habe ich noch nie so eine emotionale Feedbackübung erlebt. Offen, wertschätzend und dennoch unfassbar konstruktiv kritisch flossen sogar Tränen bei dem einen oder anderen Teilnehmer. Etwas überrascht von den eigenen Gefühlen ist das Team dadurch aber noch enger zusammengewachsen. Psychologische Sicherheit untereinander macht ein Team zu einem High-Performing Team und solch eine gemeinsame Erfahrung kann genau diese Sicherheit schaffen.
Rückblick als Start in die Zukunft
Wir sind alle gut darin uns über andere Kollegen, das Unternehmen oder das Umfeld aufzuregen, aber wie oft sprechen wir diese Dinge auch an? Und dann auch noch konstruktiv? Überlegen wir uns auch immer, was wir denn eigentlich konkret anders machen oder haben wollen würden? Oder noch wichtiger: Wann sagen wir unseren Kollegen mal, was sie gut machen und warum wir sie im Team nicht missen wollen? Wir nutzen diese Form der Rückschau z.B. auch am Ende der Begleitung unserer Teams auf ihrem Weg der Veränderung. Veränderung oder auch Transformation ist sehr individuell. Wir wollen diese Individualität auf der einen, aber auch die Nachhaltigkeit der Veränderung auf der anderen Seite in den Fokus rücken. Deswegen ist es wichtig, ganz individuell im Team zu schauen, welche Methoden, Formen der Zusammenarbeit, Übungen oder Kommunikationsmöglichkeiten passend sind. Was bringt das Team weiter und was hält es auf? Und wie schaffen wir dies in den Arbeitsalltag zu integrieren? Nur so kann man sich als Team stetig weiterentwickeln.
Jetzt erst recht – nach Corona ist vor der neuen Normalen
Gerade in der jetzigen Zeit, in der wir alle darüber nachdenken was „die neue Normale“ wird, sollten sich die Unternehmen und die einzelnen Teams damit befassen, was in den vergangenen Monaten gut und was nicht so gut lief. Plötzlich arbeiteten wir alle im Homeoffice, Technik wurde hier teils von heute auf morgen besorgt und eingerichtet, alle Meetings liefen nur noch virtuell ab. Viele der umgesetzten Maßnahmen der letzten Wochen überkamen die Teams ad-hoc. Zahlreiche Mitarbeiter – und vor allem Führungskräfte – sind gerade überrascht, wie gut die Zusammenarbeit im Rahmen dieser veränderten Bedingungen und Kommunikation so plötzlich funktioniert. Aber sind wir uns als Team immer noch nah? Schöpfen wir die technischen Möglichkeiten schon aus? Kommunizieren wir mehr oder weniger? Kehren wir bei weiterem Rückgang der Einschränkungen einfach in die alten Muster zurück? Hoffentlich nicht! Jetzt ist es umso wichtiger, zu evaluieren was wir für eine langfristige Etablierung der eingesetzten Methoden, Techniken und Werte benötigen. Und herauszufinden, was wir bisher noch nicht bedacht haben und wo die Möglichkeiten noch ausbaufähig sind.
Zur Autorin
Katharina Großmann ist Expertin für das Thema New Work. Bei der migosens GmbH liegt ihr Schwerpunkt auf dem erlebbar Machen einer smarten Arbeitskultur, um die Organisation weiterzuentwickeln. Sie ist außerdem Impulsgeberin bei Veranstaltungen und begleitet interaktiv Teamevents und – workshops.